Kunstmusik - Trivialmusik

Kunstmusik - Trivialmusik
Kunstmusik - Trivialmusik
 
Eine Eigentümlichkeit der Kultur des 19. Jahrhunderts ist die beginnende Massenproduktion »von Kunst geringen Wertes«. Analog dazu entsteht eine neue Sparte billiger, trivialer, seit den 1870er-Jahren auch als »kitschig« bezeichneter Musik. Dass »Trivialmusik« einen Gegensatz zur »Kunstmusik bildet«, erscheint selbstverständlich. Doch ist es nicht ganz leicht, beide Bereiche voneinander abzugrenzen und den Zeitpunkt anzugeben, von dem an Musik triviale Züge tragen kann. Historische Vorbilder und verwandte Begriffe können dabei nur bedingt weiterhelfen. Trivialmusik ist nicht Unterhaltungsmusik. Denn zumindest bis 1800 war musikalisch Unterhaltendes, barocke Tänze oder Divertimenti der Mozartzeit, nicht trivial. Auch die Begriffe »funktionale Musik« oder »Gebrauchsmusik« sind weiter gefasste Termini, die zum Beispiel auch alle liturgisch an die Kirche gebundenen Kompositionen einschließen. »Leichte« oder »heitere Musik« impliziert den Gegensatz »schwere« oder »ernste Musik«. Trivialmusik ist jedoch nicht immer leicht und heiter und Kunstmusik keinesfalls immer schwer und ernst.
 
Bei der Umschreibung des Phänomens muss man Aspekte wie den künstlerischen Rang, die Verbreitung, die intendierte Wirkung und die Art der Rezeption einbeziehen. Denn neben einer höheren, anspruchsvollen, »artifiziellen« Musik hat es immer eine niedere, volkstümliche, »usuelle« Musik gegeben. Das Neue im 19. Jahrhundert ist die Verwischung sozialer Grenzen und die Ausbreitung der einfacheren, niederen Musik innerhalb einer demokratisch sich verändernden Gesellschaft. Was vorher auf untere Schichten beschränkt blieb, wird zu einer »Musik für alle«, zu einem leicht zugänglichen Vergnügen, das man niemandem vorenthalten möchte. Das ist zunächst ein wohlmeinender, pädagogisch philanthropischer Ansatz, der erst dadurch fragwürdig wird, dass sich die beginnende Industrialisierung der neuen Ware Musik bemächtigte und die Gefühlswirkung, die sie verspricht, kommerziellen Interessen nutzbar machte. So profitierte der Klavierbau in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in erheblichem Maße vom Klavierspiel der »höheren Töchter«, einem Statussymbol der Mädchen und jungen Frauen des Bürgertums, und der Druck sentimentaler Salonstückchen avancierte zu einem Industriezweig mit höchsten Auflagen.
 
Trivialmusik fordert kein differenziertes Hören, das den komplexen Sinngehalten des Kunstwerks entspricht. Ihre stereotype Rezeptionsweise ist eine spontane, unreflektierte »Rührung«. Natürlich kann auch Kunstmusik so rezipiert werden, sie ist aber der Intention nach nicht darauf angelegt. Als durchgeformtes ästhetisches Objekt will sie ihr Eigenes entfalten und danach beurteilt werden. Trivialmusik dagegen vermittelt einen mühelosen Selbstgenuss. Ihre poetisierenden Titel wecken träumerische Bilder, die dazu verhelfen, die harte, nüchterne Zivilisationswelt zu vergessen. Das »Gebet einer Jungfrau« von Tekla Badarzewska-Baranowska oder »Klosterglocken« von Louis James Alfred Lefébure-Wély sind hierfür sprechende, zu ihrer Zeit außerordentlich beliebte Beispiele.
 
Der prinzipielle Kontrast zwischen Kunstmusik und Trivialmusik kann dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Trennungslinie im Einzelnen schwer zu ziehen ist. In vielen Fällen lässt sich die Simplizität von Salonkompositionen leicht aufzeigen. Aber es gibt auch gut gemachte Trivialstücke, und die Machart allein, ohne die ästhetische Absicht und Wirkung zu beachten, reicht als Wertkriterium nicht aus. Zudem finden sich Passagen, harmonische Wendungen, Melodiephrasen und Begleitformeln in der Kunstmusik, die in der Trivialmusik ebenso vorkommen. Hier kann nur der Kontext entscheiden, das Ganze eines Werkes, in welchem die Details, kunstvoll variiert und verarbeitet, ihren Sinn finden oder in banale, abgenutzte Partikel auseinander fallen. Nicht zuletzt kann die dauerhafte oder kurze Geltung eines Werkes als ein Hinweis auf seinen Kunstcharakter dienen. Wirkliche Kunstwerke tendieren zur zeitlosen Klassizität, Trivialmusik ist wie die Mode dem Geschmack und Sentiment der jeweiligen Gegenwart unterworfen. Salonkompositionen veralten daher schnell. Und viele in ungeheurer Zahl verbreitete Piècen für Klavier und Gesang wurden bald wieder vergessen. Hört man sie sich heute an, wirken sie blass, und ihre frühere Faszination ist kaum nachzuvollziehen.
 
In dem Maße, in dem die Komplexität der Kunstmusik ein immer intensiveres Verständnis und eine immer kompetentere Zuwendung erforderte, wurde ihr Abstand zur leicht rezipierbaren Trivialmusik immer größer. Diese Entwicklung ist durch das ganze 19. Jahrhundert hin zu beobachten und hat sich im 20. Jahrhundert fortgesetzt. Der endgültige Bruch zwischen beiden Bereichen vollzog sich mit dem Beginn der Neuen Musik um 1910, zumindest im Hinblick auf die antonale Werke der Schönberg-Schule. Andere Komponisten, beispielsweise Maurice Ravel und Darius Milhaud in Frankreich, haben triviale Elemente in ihre Kompositionen bewusst einbezogen, sodass die Grenzen zwischen der »hohen« Kunstmusik und der »niederen« Unterhaltungsmusik fließend wurden und sich in einer »mittleren« Musik durchaus treffen können. Das Konzertleben hat allerdings bis heute an der Trennung relativ strikt festgehalten, und auch die Mehrzahl der Musikhörer versteht sich wie im 19. Jahrhundert noch immer als Publikum der einen oder anderen Musiksparte. Die nicht unproblematische Unterscheidung der Medien und des Musikmarktes zwischen U-Musik und E-Musik, wird durch dieses Verhalten der Konsumenten weitgehend legitimiert.
 
Prof. Dr. Peter Schnaus
 
 
Dahlhaus, Carl: Klassische und romantische Musikästhetik. Laaber 1988.

Universal-Lexikon. 2012.

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